Die soziale Herkunft entscheidet in Deutschland immer noch maßgeblich über den Bildungserfolg und damit auch oft über die berufliche Zukunft einer Person. Kinder aus Nichtakademiker- :innenfamilien sind dabei ganz klar im Nachteil und das, obwohl sie häufig über wertvolle Qualifikationen verfügen, meint die promovierte Ethnologin Dr. Noémie Hermeking. Im Interview spricht sie mit uns über veraltete Glaubenssätze, ausselektionierte Potenziale und konkrete Maßnahmen gegen klassistische Diskriminierungen.
Vielen Dank für das Gespräch, liebe Noémie!
Liebe Noémie, der Glaubenssatz, man müsse sich nur genug anstrengen, dann könne man alles schaffen, hält sich noch hartnäckig in unserer Gesellschaft. Wie stehst Du zu diesem Satz?
Noémie Hermeking: Dieser Satz wäre in Ordnung, wenn wir alle die gleichen Startbedingungen hätten, aber da die soziale Schere zwischen Arm und Reich immer größer wird und damit auch die Benachteiligung in sämtlichen Bereichen, kann ich diesen Glaubenssatz so nicht unterstützen. Für mich zeigt dieser Satz eher den Versuch, keine Verantwortung für soziale Ungerechtigkeit übernehmen zu wollen. An der Stelle lässt sich auch gut auf den OECD-Bildungsbericht verweisen, der wieder einmal gezeigt hat, dass das Einkommen und die Bildungsabschlüsse der Eltern sich immer noch stark auf die Bildungschancen der Kinder auswirken. In Bayern haben Kinder von Akademiker:innen nach der vierten Klasse eine viermal größere Chance eine Gymnasialempfehlung zu bekommen als Kinder aus prekären Verhältnissen oder Kinder mit Migrationsbiografie. Die Selektion beginnt also schon recht früh. Als promovierte Ethnologin und interkulturelle Trainerin im Bildungsbereich habe ich direkte Berührungspunkte mit dem Thema soziale Herkunft und Bildungserfolg. Ich sehe tagtäglich vor wie vielen Herausforderungen die Schüler:innen stehen.
Wo begegnen uns klassistische Strukturen in der Arbeitswelt?
Noémie Hermeking: Die gesellschaftliche und strukturelle Benachteiligung von Menschen aufgrund ihrer sozialen Herkunft, auch Klassismus genannt, hat für die Betroffenen direkte Auswirkungen auf ihre Gesundheitsversorgung, den Wohnraum, den Zugang zu Bildungsabschlüssen oder zum Arbeitsmarkt und vieles mehr. Wenn wir konkret über die Arbeitswelt reden, dann fällt mir dazu Tanja Abous (Sozialarbeiterin und queere Poverty-Class Akademikerin) kritische Auseinandersetzung mit dem Satz „Jede:r kann es schaffen“ und der Illusion von Aufstiegsmöglichkeiten ein. Zum Beispiel findet klassistische Diskriminierung beim Übergang von den Grund- zu weiterführenden Schulen oder beim Bewerbungsprozess, aber auch in der Internetpräsenz von Unternehmen statt.
Ein Blick auf die Homepages von Unternehmen sagt eigentlich schon relativ viel über deren Diversitätsverständnis aus. Werden Diversität und Inklusion auch wirklich gelebt? Wie divers ist die Belegschaft? Welches Bild repräsentiert die Führungsetage? Sind da auch Menschen vertreten, die keinen perfekten Bildungsweg aufweisen, vielleicht einer marginalisierten Gruppe angehören, aber Stärken und Potenziale mitbringen, die dem Unternehmen helfen könnten? Bei einigen Unternehmen ist bereits die Grundvoraussetzung ein Masterabschluss. So werden dann natürlich wertvolle Potenziale schon vorher ausselektioniert.
Klassistische Diskriminierung begegnet mir leider auch in meiner ehrenamtlichen Tätigkeit als Unterstützerin von Geflüchteten öfter. Ich bereite sie unter anderem auf Bewerbungsgespräche vor. Nichtdeutsche Bildungsabschlüsse, aus bestimmten Ländern, werden allzu oft nicht anerkannt. Dass macht es den Menschen wiederum schwer hier anzukommen, weil sie vor vielen Barrieren stehen, die ihre Kompetenzen anzweifeln. Eine Person mit einem super Abschluss aus Afghanistan oder Syrien endet dann vielleicht als Taxifahrer:in und das ist einfach schade. Gleiches gilt für Fremdsprachenkenntnisse. Sprichst du Englisch, Französisch oder Spanisch, dann ist das bei den Unternehmen oder auch allgemein in der Gesellschaft immer gern gesehen. Während Sprachen wie Arabisch, Türkisch oder Persisch kaum relevant erscheinen. Hier sieht man sehr deutlich, dass strukturelle Benachteiligungen selten alleine kommen. Es gibt viele Menschen, die von Mehrfachdiskriminierungen betroffen sind und zahlreiche Herausforderungen bewältigen müssen. Daher ist es auch sehr wichtig, dass man beim Umgang mit Diskriminierungen einen intersektionalen Ansatz verfolgt, denn eine Frau, die einer ethnischen und sexuellen Minderheit angehört und vielleicht zudem noch Alleinerziehende ist, hat, so muss man es klar benennen, nicht die gleichen Chancen wie eine weiße-cis-gender-Person. Daher ist es mir persönlich wichtig, dass man da auch mitdenkt und einen holistischen Blickwinkel einnimmt.
Welche Handlungsmöglichkeiten haben Unternehmen und Einzelpersonen, um Klassismus entgegenzuwirken?
Noémie Hermeking: Ich finde, es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, klassistischen Barrieren abzubauen. Wir brauchen einfach mehr Solidarität und weniger Ellbogenmentalität. Ich finde es wichtig, über den Tellerrand zu schauen und insbesondere darauf, welche unbewussten Vorurteile man selbst hat. Wir haben alle Bilder im Kopf. Es ist hin und wieder notwendig, diese Bilder zu überarbeiten. Es ist entscheidend, dass wir uns Wissen aneignen, einander offener begegnen und in den Dialog treten. Denn nur so können wir Stereotype und Vorurteile aufbrechen und diese alten Bilder in unseren Köpfen korrigieren, damit die Diskriminierung nicht fortgesetzt wird.
Ich finde es in der Arbeitswelt besonders wichtig, dass Unternehmen lernen, einen Perspektivenwechsel einzuüben. Bei Bewerbungsprozessen vielleicht mal weniger auf die Zeugnisse schauen, sondern auch zu gucken, was bringen die Bewerber:innen eigentlich sonst für Qualifikationen mit. Welche Stärken haben sie? Wie können wir diese Stärken und Kompetenzen in unser Unternehmen einbinden? Brauche ich für diese Tätigkeit wirklich jemanden, der:die eine perfekte Grammatik oder Rechtschreibung hat? Oder ist die Mathenote wirklich relevant für eine Tätigkeit, die ohne Mathekompetenzen verrichtet werden kann? Die Jugendlichen, mit denen ich arbeite, haben beispielsweise eine enorme interkulturelle Kompetenz, weil viele aus einem anderen Kulturraum kommen und divers aufgewachsen sind. Da kann man schauen, dass man diese Kompetenzen auch wirklich als nutzbare Ressource anerkennt und wertschätzt. Allgemein finde ich, dass es an der Zeit ist, dass Einstellungsverfahren ein Update bekommen. Es ist einfach nicht mehr zeitgemäß, dass man in Onlineverfahren Unmengen an Seiten und Formularen ausfüllen muss. Da gibt es beispielsweise Unternehmen, die Bewerbungen teilweise über WhatsApp anbieten oder ein persönliches Video anfordern. Das schafft Barrieren ab. Sicherlich macht es Sinn, Bewerber:innen ein Vorstellungsgespräch oder ein Praktikum anzubieten, um sie kennenzulernen und sich einen Eindruck zu verschaffen, ob die Person auch wirklich für den Job geeignet ist. Es ist immer schöner jemanden einzustellen, der:die motiviert ist und der:die etwas lernen möchte als jemanden, der vielleicht sehr gute Noten, dafür aber wenig Interesse an der persönlichen Weiterentwicklung hat.
Darüber hinaus sind Organisation und Initiativen wie ArbeiterKind, Netzwerk Chancen, KEY2BE.ME, Smart Natives oder Aufsteiger wichtige Anlaufstationen für Menschen, die von sozialer Benachteiligung betroffen sind, die die Ersten in ihrer Familie sind, die studieren, kostenfreie Berufsorientierung suchen oder einfach nur Zukunftskompetenzen erlernen möchten. Da findet man nicht nur Hilfe in Bezug auf Bildungschancen, sondern auch Unterstützung beim Berufseinstieg, Mentoring und auch viel Aufklärung. Ein wichtiger Schritt ist es solche Initiativen zu unterstützen und dafür zu sorgen, dass sie für Menschen, die von sozialer Benachteiligung betroffen sind, sichtbar und erreichbar bleiben. Man muss einfach viele Möglichkeiten schaffen, damit Armut keine Hürde für Bildungschancen oder beruflichen Erfolg ist. Da kann man auch von anderen Ländern lernen, die mit einem guten Beispiel vorangehen. Ein gutes Vorbild ist für mich Uruguay, das bereits 2009 mit dem Bildungspaket „one child one laptop“ alle Kinder im Land mit einem Laptop/Computer versorgt hat. Das ist für mich auch ein wesentlicher Punkt: Es bringt nichts, nur die digitale Infrastruktur in Deutschland zu verbessern, wenn sich einige Menschen einfach kein Endgerät leisten können. „Partizipation und Teilhabe auf Augenhöhe“ sollte das Motto unserer Gesellschaft sein.
Interview: Nielab Juyanda-Nassery ist Mitgestalterin bei CO:X. Sie beschäftigt sich privat und beruflich mit den Themen Diversität und Inklusion und möchte Menschen und Unternehmen auf die unendlichen Potenziale einer diversen und inklusiven (Arbeits-)Welt aufmerksam machen und sie darin unterstützen Vielfalt bewusst zu leben.
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Martin Rastinger (Dienstag, 30 November 2021 20:36)
Super Interview. Wichtiges Thema!